Ein paar Monate noch, und ich kann den Zwanzigjähri- |
gen feiern. Manchmal denke ich mit etwas Wehmut an die Zeit
als relativer Grünschnabel zurück. Das unbewusste Motto
lautete ja: |
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Mein Reisetagebuch |
1. Tag - 22. Dezember 1988 |
Hamburg nach Bendestorf |
Ein trüber Tag beginnt. Carmen bringt mich mitsamt Fahrrad und
Gepäck mit dem Auto nach Hamburg. Der erste Weg führt in die
Druckerei, um die Aufkleber mit dem Zeichen vom Buchumschlag
abzuholen. Die Drucksachen sind nicht fertig geworden, ein
schlechter Auftakt. Auf dem Hamburger Rathausplatz ist nur eine
leichte Weihnachtsstimmung zu spüren. In mir ist nur Aufregung,
ganz ohne Weihnachtsgefühle. Bis zur Abfahrt um 10 Uhr ist
genügend Zeit für zwei Besuche, um mich von Freunden zu
verabschieden. Gehe ins Rathaus und bringe Henning Voscherau,
dem Bürgermeister, ein Buch mit Widmung. Leider ist er selber nicht
anwesend. Halb zehn kommt Christine, etwas später der russische
Maler mit seiner Freundin. Keine Presse, kein Reporter von Radio
Hamburg, obwohl sie mir das Interview fest zugesagt hatten. Das
Interview vom Vortag hatten sie ja auch nicht gesendet. Aller Anfang
ist schwer, ich weiß das und bin nicht missmutig, im Gegenteil.
Irgendwann platzt der Knoten, dazwischen liegt nur Zeit, was macht
das schon: "Die Idee ist doch längst geboren". |
Umarmung, auf Wiedersehen, und dann bin ich auf dem Weg, auf
dem von mir gewählten Weg, bin auf der Straße wie ein herrenloser
Hund. Ich konnte nicht mehr vom Sofa aus das Geschehen in der
Welt beobachten, musste fahren, getrieben von einer Kraft, die ich
"Liebe für die Welt" nennen möchte, geboren aus der Sorge um den
Fortbestand der Menschheit. |
Friede auf Erden, und den Menschen. Scheiß auf das Wohlgefallen. |
Die erste für ein Interview in frage kommende Zeitung sind die
»Harburger Nachrichten«. Die wollen mich nicht, obwohl ich dem
Geschäftsführer bereits vor Wochen mein Buch schickte. Später
denke ich, dass zu diesem frühen Zeitpunkt der Reise die
Glaubwürdigkeit zu gering war, 20 km nach dem Start, wo noch
4.980 km zu fahren sind. |
Bis Bendestorf zu meiner Wohnung, dem ersten Etappenziel, sind es
nur 40 km, aber diese relativ kleine Strecke verbraucht meine Kräfte
vollkommen. Total erschöpft und körperlich am Ende stolpere ich ins
Haus. Die verschwitzten Klamotten ausziehen und ins Bett fallen
sind eins. |
Abends packe ich die bereit liegende Kleidung und sonstige
Reiseausrüstung in die beiden Gepäcktaschen, die nun bis oben hin
voll gestopft sind und sehr schwer wiegen. Nichts vergessen, an alles
gedacht? Sicher wird sich bald herausstellen, was zuviel ist oder fehlt.
Schließlich habe ich keinerlei Erfahrungen mit solcherart Reisen,
buchte Flugreisen im Reisebüro mit Vollpension und Kofferservice.
Ja, und nun? Morgen der endgültige Absprung, ohne Netz und
doppelten Boden, ohne Zaudern und Zögern das Ungewöhnliche
wagen, für eine Welt, deren Leben wie verloren erscheint. Das ist
nämlich meine Welt: die Zustände in ihr bleiben in meiner Schuld,
wenn ich wieder ein Weihnachtsfest fresse und saufe, mir
siebenundzwanzig Spielfilme reinziehe und zwischendurch mal auf
die „Mutter“ hopse. |
2. Tag - 23. Dezember 1988 Bendestorf - Rotenburg - Ahausen |
Heute ist der erste Tag, wo es Richtung Süden von Zuhause fort
geht. Mit Blei in den Beinen beginnt die zweite Etappe. Kämpfe mich
durch das norddeutsche Wetter bis Buchholz zum "Nordheide
Wochenblatt", um hier zu versuchen, ein Interview zu verkaufen.
Der junge Redakteur sagt, dass er mit dem Inhalt des Buches, ich
hatte ihm eins per Post geschickt, nicht fertig geworden wäre. Was
heißt das schon. Ich sage: lesen und wirken lassen. Tatsächlich fragt
er mich einiges, schreibt eifrig und fotografiert mich. Zwischen
Weihnachten und Neujahr wird es gedruckt, super, ich bin stolz
darauf, meine Ideen Schatten werfen zu sehen. |
Im Buchladen erfahre ich von meinem Freund, dass er ein Buch für
19,80 DM verkaufen konnte, und ich freue mich über die nun offen
ausgelegten Bücher. "Wie willst du dich unterwegs ernähren?", fragt
er mich. Vom geteilten Stück Brot meines Nächsten, sage ich. "Dann
wollen wir damit gleich mal anfangen", antwortet er mit
verschmitztem Lächeln und drückt mir ein Paket Kekse in die Hand.
Die erste Panne gibt’s auf freier Strecke hinter Sprötze, die Kette
läuft ab. Zufällig kommt mir eine Frau mit Hund entgegen, die das
Rad festhalten kann, denn als absoluter Fahrrad-Laie brauche ich für
die Reparatur noch beide Hände. "Warum bist du bei diesem
Sauwetter unterwegs?“, fragt sie mich, und ich berichte von meiner
Mission. "Viel Glück und vor allen Dingen Erfolg, denn ich bin
Gorbi-Fan". Die menschlichen Begegnungen machen mir Mut. |
Die nächste Jugendherberge liegt bei Fintel, aber die Strecke bis
dahin erscheint mir als Tagespensum doch zu kurz. Rotenburg soll es
schon werden, ich will voran kommen und ein Mann sein, genauer
gesagt, ein Held. Das ist mein erster Fehler. Die Jugendherberge ist
wegen der "Feiertage" geschlossen, meine Sitzfläche ist blutig
gescheuert, es ist dunkel, es regnet, und es wäre auch kalt, ha, wenn
ich nicht so schwitzen würde. Ich bin noch mehr als gestern
erschöpft, obwohl ich eine Steigerung für unmöglich hielt. Wo finde
ich ein Nachtquartier? Vielleicht bei meinem Freund Gerhard in
Ahausen? Die fünf Kilometer werde ich wohl noch schaffen, ja
müssen, sonst endet die Reise nach Moskau vorzeitig im
Straßengraben, meine Idee für die Menschen wird unrühmlich mit
mir begraben. Vielleicht gibt es noch einen kleinen Nachruf in
irgendeinen Käseblatt: »Gestern fanden Spaziergänger eine Leiche im
Straßengraben. Der offensichtlich geistig verwirrte Mann lag erfroren
neben seinem Fahrrad«. |
Mehr tot als lebendig klingel ich. Mein Freund ist nicht zu Hause,
aber seine Kinder lassen mich herein in die warme Stube und
bemühen sich um mein Wohlergehen. Ich darf ein Bad nehmen und
die schweißnassen Klamotten wechseln. Bald schon kommen
Gerhard und seine Frau Margret, die natürlich ziemlich überrascht
sind über den ungebetenen Gast so kurz vor den christlichen
Festtagen. Aber während Gerhard langsam freundlicher wird, wird
Margret wütend. Sie bemüht sich heftig und ohne jede Zurückhaltung
um mich: "Ich empfehle ihnen eine psychotherapeutische
Behandlung, um ihre Vergangenheit aufzuarbeiten", und weiter: "Ich
halte sie für selbstmordgefährdet". Peng! Das saß. Die Ohrfeige hatte
den Charakter einer seelischen Exekution. Zwei Tage nach diesem
Schock finde ich die Zeit, mich mit dem Thema auseinander zu
setzen. |
Mein Selbstmord und Ich |
Ich will Frieden, und weil ich fühlte, dass man für den Frieden
arbeiten muß, tötete ich meine bürgerliche Vernunft.
Notwendigerweise, sonst säße ich heute genau wie die anderen auf
dem Sofa, auf dessen Rückenlehne auf einem winzigen Schild in
kaum leserlicher Schrift steht: "hochexplosiv". Ok, also
Friedensarbeit will ich leisten, was ich vorher niemals tat. Wo kann
ich meinen neuen Job erlernen? Gibt es den "Großen Meister", der es
weiß und kann und tut? Hm, ich schaue mich um, sehe, dass die
Waffen mehr werden, das Elend größer. Nein, entscheide ich: es gibt
ihn ganz offensichtlich nicht. Was bleibt mir da, als durch die Lande
zu ziehen und versuchen, meine neue Rolle zu lernen. Dafür musste
ich den Wunsch meines Körpers nach Sicherheit und Geborgenheit
überstimmen und seine ihm gewohnten normalen Verhaltensmuster
abstreifen. Ist das Selbstmord? Beging der Soldat Selbstmord, der als
getreuer Vaterlandsverteidiger vor Stalingrad erfror, weil er guten
Glaubens dem Ruf des Unrechts folgte? Beging Jesus Selbstmord,
weil er sich gegen seine Verurteilung nicht wehrte, weil er vor der
Bedrohung seines körperlichen Lebens nicht davonlief? |
Ich denke es lohnt sich, Selbstmord etwas genauer zu betrachten.
Mein Körper ist gegen meinen Willen geboren, und er hat den Tod
seit seiner Geburt in sich. Zwangsläufig legt er irgendwann einmal,
sozusagen selbsttätig Hand an sich, um den aktiven Zustand seines
mechanischen Handelns zu beenden. Auch sein Verstand kann
diesem Ende nicht begegnen, der sucht doch schon seit
Menschengedenken aussichtslos nach dem Sinn seines körperlichen
Daseins. Der Verstand mit seinem Maß an Vernunft ist es, der das
Fleisch mehr oder weniger früh zum Tode führt, indem er
entscheidet über gefährliche oder harmlose Situationen, über richtige
Ernährung und Pflege. Kann das Fleisch als Körper/Verstand
überhaupt einen Lebenssinn erfüllen, wenn es bereits im Moment des
Werdens vom Tod gezeichnet ist? |
Zwischen Geburt und Tod liegt die Zeit des Erschaffens, eine für den
Körper scheinbar sinnlos geleistete Arbeit. Jedoch ein Teil im
"System Mensch" ist zeitlich nicht gebunden, da unsterblich - das
Wesen nämlich. Und das Wesen ist es, das sich für eine kürzere
Lebensdauer seines Körpers entscheiden kann. Das wird z.B. der
Fall sein, wenn das Wesen durch die zum Tode führende Aktion zu
einem großen Gewinn kommt. Dann setzt sich das Wesen über die in
seinem Körper eingepflanzte Todesangst hinweg, bringt den Körper
ins Risiko vorzeitigen Ablebens. Es trifft mit der Gewissheit diese
Entscheidung, dass es in der ihm verordneten körperlichen Welt um
ein langes Leben ja gar nicht geht. Der Impuls „Überleben“ muss
also von einer Instanz kommen, für die eine so genannte Ewigkeit
relevant ist. |
Ich glaube, der Körper als Verursacher begeht niemals Selbstmord.
Das Wesen ist es, was darüber bestimmt, entweder aus einer
aussichtslosen Situation heraus (keiner liebt mich – ich werde nicht
mehr gebraucht) oder aus Enthusiasmus aus dem Leben der
Gemeinschaft auszuscheiden. Also, liebe Margret, mein Wesen will
das Spiel hier gewinnen und treibt meinen Körper an zu einer
zugegebenermaßen ziemlich verrückten Sache. Dass ich als Fleisch
dabei wahrscheinlich mehr früher als später drauf gehe, ist mir
vollkommen klar, denn ICH will das so. Wenn du das Selbstmord
nennst, okay. Besser diesen freiwilligen Tod als fünfundvierzig Jahre
brav für die Rente zahlen, dann im Altenheim dahin siechen und
einmal im Monat auf die Kinder warten, die sich ein Stück von der
Rente abbeißen wollen. Nein danke. |
Übernachten kommt natürlich nicht in frage: unmöglich, so kurz vor
Weihnachten, diese heiligen Tage sind ausschließlich der Familie
vorbehalten. Oh mein Gott, was feiern die Leute denn nur in diesen
Tagen. Mit dir oder deinem Sohn kann das jedenfalls nichts zu tun
haben, wenn der Horizont für Nächstenliebe die Familie ist. Carmen
kommt und fährt mich zurück nach Hause, wo ich meine Wunden
versorgen kann. Weihnachten nun doch Zuhause? Ja, es geht am
nächsten Tag mit dem besten Willen nicht weiter. Die Sitzfläche hat
Totalschaden, zwingt mich zwei Tage in bequemer Seitenlage in den
Kreis der Familie. Zum Kotzen, dieses Weihnachten. Ich sitze da
verloren zwischen den anderen herum, die sich Berge von Essen und
Seen von Schnaps und Wein und Bier in die Figur hauen, wie alle
Jahre. Anders gestaltet nur das Fernsehprogramm. Mich tröstet mein
baldiger Abschied. |