Zum Fliegen braucht man auch kleine Federn

Streifzüge

Recklinghausen
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Menüknopf

6. April 2009

Auf der anderen Seite der Straße

Unser Weg führte uns gestern nach Recklinghausen,

eine Industriestadt an der Emscher mit ca. 120.500 Einwohnern,
erstmals erwähnt 1017; die Stadt der Ruhrfestspiele, die durch die Jahrhunderte verschiedenen Erzbistümern und Herzogtümern angehörte; die Stadt, in der 1706 Anna Spickermann als letzte Hexe verurteilt und verbrannt wurde; eine Stadt mit tausenden Zuwanderern aller Nationen; eine Stadt, in der Menschen verschiedener Hautfarben und Religionen miteinander leben.

Eigentlich waren wir ja hierher gekommen, um preiswert ein Ersatzteil für Wolfgangs Fahrrad zu bekommen und waren doch ziemlich genervt, festzustellen, dass wir die 45 Kilometer mit dem Rad umsonst gemacht hatten. Eigentlich waren wir auch nicht wenig genervt, teilweise aber auch amüsiert, von den Menschen und Zuständen, die uns hier begegneten, und uns kamen Wörter wie "Bronx", "Ghetto" und auch "Verrecklinghausen" in den Sinn. Das können die nachfolgenden Fotos vielleicht ansatzweise erklären.

Chinesisch neben arabisch neben Casino neben italienisch neben türkisch - "Multikulti" bestimmt das Bild der Bochumer Straße im Recklinghausener Süden.

Sperrmüll am Straßenrand, leer stehende, schmutzige Ladengeschäfte, überquellende Mülltonnen, völlig zerbeulte und notdürftig beschriftete Briefkästen... und von dem SOS-Telefon vor einer Grundschule ruft niemand mehr an. Zeichen von Acht- losigkeit und mut- williger Zerstörung sind hier einige zu finden.

Als teilweise bedrohlich empfinde ich den Straßenverker. Es sind übrigens auffallend viele dicke Schlitten unterwegs - und drinnen sitzen auffallend häufig sehr junge Männer, die einen ziemlich aggressiven Fahrstil an den Tag legen. Überbleibsel eines Wagenrennens liegen noch auf der Fahrbahn.

Sicher könnte ich noch Einiges aufzählen, was unseren Unmut erregt in diesem Stadtviertel in dieser Stadt. Bis ich - als Wolfgang in einem Laden ist und ich vorsichtshalber auf unsere Räder aufpasse - diese kleinen Jungen beobachte, die hinter einem Gitter direkt am Gehweg sitzen und spielen. Kleine Freunde, Kumpels, eben Kinder, wie es sie überall gibt, und wie sie überall sind. Als sie merken, dass ich sie fotografiere, fangen sie an, mit mir zu schäkern, machen mir Zeichen, rufen noch einen Dritten dazu, der draußen mit seinem Fahrrad unterwegs ist. Ich habe meine Freude an ihnen, wie sie offen, fröhlich und unbeschwert auf mich reagieren und mit mir "spielen".

Diese kleine Szene ermutigt mich, mir die Menschen hier einmal genauer anzusehen und über ihre Schicksale, ihre Lebensumstände, ihre Vergangeneheit und ihre Zukunftsperspektiven nachzudenken.
Zum Beispiel diese beiden Mädchen, die sich vielleicht gegenseitig über den ersten Liebeskummer hinwegtrösten. Die eine schreibt vielleicht die Hausaufgaben von der anderen ab, weil sie für ihre alleinerziehende Mutter, die den ganzen Tag schuftet, den Haushalt schmeißt und die jüngeren Geschwister versorgt.

Oder dieser junge Mann, der erschöpft am Straßenrand sitzt: Vielleicht kam er voller Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland und muss nun seine Familie mit dem Austragen von Werbeprospekten  durchbringen, in denen Luxusgüter angepriesen werden, die er sich so wohl nie wird leisten können.

Diese beiden Frauen: Stets und ständig müssen sie mit Spott und Anfeindungen rechnen, die eine wegen der Hautfarbe, die andere wegen des Gewichts. Demütigungen gehören zu ihren alltäglichen Lebenserfahrungen.

Schließlich das alte türkische Ehepaar in einem Hinterhof: Mit welchen Entbehrungen mussten sie die materielle Sicherheit bezahlen, die ihnen das Gastarbeiterdasein in Deutschland bescherte? Vielleicht wären sie längst heimgekehrt, wenn die Heimat ihrer Kinder nicht Recklinghausen hieße?

Hinter den Türen in dieser Straße wohnen wohl sehr unterschiedliche Menschen, aber die Gemeinsamkeiten überwiegen. Sie alle haben ihre Ängste und Nöte, haben sicher auch ihre kleinen Freuden und ihre starken und großen Momente. Sie alle vereint das Streben nach etwas Glück, wie auch immer ihr persönliches Glück aussehen mag. Und sie alle haben ganz klein angefangen. Als winzige Kinder, in denen alle, wirklich alle Möglichkeiten angelegt sind, in denen alle Fähigkeiten schlummern, um ihren persönlichen Lebensentwurf zu entfalten. Ob diese Fähigkeiten geweckt werden und ob sie wachsen dürfen, das hängt von von vielen Dingen ab, hängt auch ab von Dir und mir, mit welcher Einstellung wir ihnen begegnen.

People are people, so why should it be...? Ja, woher kommen Hass und Unverständnis? Ganz bestimmt nicht aus einem kleinen Kind.

 „Liebe kann man lernen. 
Und niemand lernt besser als Kinder. Wenn Kinder ohne Liebe aufwachsen,...

Eines ist sicher: Unsere Tour nach Recklinghausen war keinesfalls "umsonst".

 Eine typische Stadt im Ruhrgebiet eben.